Was hat das Gericht entschieden?
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Woche in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass eine generelle Pflicht besteht, die Arbeitszeit zu erfassen. Das BAG beruft sich dabei auf ein bereits im Mai 2019 gefälltes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Schon vor drei Jahren hatte dieser im sogenannten Stechuhr-Urteil die Mitgliedsstaaten in die Pflicht genommen, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Nach dem EuGH-Urteil ist in Deutschland aber zunächst einmal nichts passiert, das Bundesarbeitsgericht ist mit der neuerlichen Entscheidung nun vorangeprescht.
Welche Regeln gelten bereits?
In Deutschland sind Unternehmen bisher nicht gesetzlich verpflichtet, die genauen Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer zu dokumentieren. Doch es gibt Ausnahmen, etwa für bestimmte Berufsgruppen oder Branchen. So müssen geringfügig Beschäftigte nach dem Mindestlohngesetz ihre Arbeitszeiten aufzeichnen. Und auch in Branchen wie dem Baugewerbe oder in der Gastronomie werden bereits Arbeitszeiten erfasst, um Schwarzarbeit zu verhindern.Darüber hinaus muss die Arbeitszeit von Arbeitnehmern dokumentiert werden, die an Sonn- und Feiertagen arbeiten oder die Überstunden machen – also mehr als acht oder in Ausnahmefällen zehn Stunden am Tag arbeiten.
Welche Folgen hat die Entscheidung des BAG auf Arbeitnehmer?
Die Folgen des Beschlusses sind weitreichend. Gregor Thüsing, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Bonn, nannte die Entscheidung des BAG einen Paukenschlag. In der Industrie, in Behörden oder im Gastgewerbe gehört die Zeiterfassung zwar in vielen Unternehmen bereits zum Alltag. Das Urteil des BAG betrifft im Zweifel aber alle Arbeitnehmer in Deutschland – also rund 45 Millionen Beschäftigte. Viele davon arbeiten in einem sogenannten Vertrauensarbeitszeitmodell, in dem Arbeitnehmer selbstständig über ihre Arbeitszeit verfügen. Damit könnte nun bald Schluss sein. Das Urteil wird dabei je nach Branche, Unternehmen oder persönlicher Situation unterschiedlich aufgenommen. Zum einen wird mit dem Schutz der Arbeitnehmer argumentiert – so haben im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt im Schnitt 4,5 Millionen Menschen mehr gearbeitet als vertraglich vorgesehen. Davon leistete mehr als ein Fünftel die Überstunden unbezahlt. BAG-Präsidentin Inken Gallner sagte, dass die Zeiterfassung auch Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung sei. Zum anderen wird aber auch die genaue Einsicht der Arbeitgeber in die Arbeitszeit kritisiert. Fest stehe, dass der mit der Arbeitszeiterfassung einhergehende Schutz der Arbeitnehmer vor einer Überlastung zwangsläufig auch mit einer erhöhten Kontrolle von Arbeitnehmern einhergehen werde, sagt dazu der Arbeitsrechtsexperte Michael Kalbfus von der Kanzlei Noerr gegenüber tagesschau.de.
Wie soll die Arbeitszeit erfasst werden?
Noch gibt es keine genauen Vorgaben dazu, wie die Arbeitszeit künftig dokumentiert werden soll. Das aktuelle Arbeitszeitgesetz gibt keine bestimme Form der Zeiterfassung vor, sie kann also handschriftlich oder auch elektronisch festgehalten werden. Damit sind sowohl Stundenzettel, Excel-Tabellen wie auch Apps zur Zeiterfassung möglich. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sieht jedoch vor, dass das System nachvollziehbar und fälschungssicher sein soll. Zudem war es den Unternehmen bisher möglich, die Dokumentation der geleisteten Arbeitszeiten auf die Arbeitnehmer zu delegieren. Wie dies künftig aussehen wird, ist noch offen.Welche Kritik an dem Urteil gibt es?Auf Seiten der Arbeitgeber gibt es teils scharfe Kritik an dem Beschluss. So wird unter anderem der bürokratische Mehraufwand durch eine Zeiterfassung beanstandet. Als „überstürzt und nicht durchdacht“ bezeichnete Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung des BAG. Die deutsche Wirtschaft brauche diese Verpflichtung nicht.
Droht das Ende von Homeoffice?
Gerade im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die Arbeit im Homeoffice in vielen Betrieben etabliert. Kritiker fürchten nun den Abschied des flexiblen Arbeitens. Kampeter sagte dazu, dass die Entscheidung nicht dazu führen dürfe, dass bewährte und von den Beschäftigten gewünschte Systeme der Vertrauensarbeitszeit in Frage gestellt würden.Dass das Urteil nun das Ende von Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit bedeutet, hält Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftbundes (DGB), dagegen für eine Gespensterdebatte. „Arbeitszeiterfassung darf man nicht mit Präsenz an einem Ort – zum Beispiel dem Büro – gleichsetzen.“ Arbeitgeber müssten aber ihren Verpflichtungen zum Arbeitsschutz auch bei diesen Modellen nachkommen und dafür sorgen, dass Höchstarbeits- und Ruhezeiten eingehalten werden, so Piel weiter.Auch Rechtsexperte Kalbfus geht es zu weit, von einem generellen Ende der Vertrauensarbeitszeit zu sprechen. Dennoch sei es aktuell nur schwer vorstellbar, wie eine Vertrauensarbeitszeit umgesetzt werden könne. Man werde abwarten müssen, welche Rahmenbedingungen festgelegt werden. Auf deren Grundlage werde man beurteilen müssen, in welcher Form eine Vertrauensarbeitszeit noch möglich sei.
Wann muss der Arbeitgeber die Zeiterfassung umsetzen?
Die Präsidentin des BAG hatte klargestellt, dass es nach dem Urteil auf europäischer Ebene Gestaltungsspielraum über das „Wie, nicht das Ob der Arbeitszeiterfassung“ gebe. Die rechtlichen Anforderungen an die Arbeitzeiterfassung sind jedoch noch unklar – und damit auch, welche Pflichten auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber zukommen.Wie reagiert die Politik auf den Beschluss?Auf das EuGH-Urteil von 2019 haben die Gesetzgeber in Deutschland bisher nicht reagiert. Das Urteil des BAG dürfte den Druck nun erhöhen. Es sei zu erwarten, dass der Gesetzgeber nun schneller handeln werde, auch um die nun bestehende Rechtsunsicherheit über die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung zu beseitigen, sagt Kalbfus. Spätestens nach der Konkretisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen müsse jedoch mit einer zügigen Umsetzung begonnen werden – andernfalls drohe das Risiko einer behördlichen Anordnung verbunden mit Bußgeldrisiken.Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales will zunächst aber die Begründung des Urteils abwarten und diese prüfen. Mit einer Urteilsbegründung des BAG wird im November gerechnet. Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP bereits festgehalten, dass man einen Anpassungsbedarf im Nachgang des Urteils auf europäischer Ebene prüfe. Flexible Arbeitszeitmodelle wie etwa Vertrauensarbeitszeit sollten jedoch auch weiterhin möglich sein. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte nun dazu, dass es wichtig sei, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht um ihren Lohn betrogen werden, durch Manipulation bei der Arbeitszeit. Man müsse aber auch darauf achten, dass – wenn das Urteil Umsetzungsnotwendigkeiten in der Gesetzgebung mitbringe – diese „so unbürokratisch wie möglich stattfindet“.